Gerd Riege (58 ) steht strahlend zwischen hunderten von Bonbongläsern und -behältern. Jedes Behältnis hat er sorgfältig mit süßen und sauren Köstlichkeiten für Leckermäulchen gefüllt. Wie ist der verheiratete Vater von drei Töchtern zu den Bonbons gekommen? Gerd R. kommt aus Hamburgs Vier- und Marschlanden, wo seine Eltern einen Gartenbaubetrieb mit einem Vertrieb auf dem Hamburger Blumengroßmarkt führten. Dieser Betrieb wurde nach klassischem Höferecht von
seinem älteren Bruder übernommen. Gerd R. machte eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann in der Getreide- und Futtermittelbranche. Danach kümmerte er sich um einen Job auf dem Hamburger Gemüsegroßmarkt, wie sein Vater es ihm geraten hat. Die dortige besondere Atmosphäre gefiel ihm sehr, und er durchlief alle Instanzen von Gemüse sortieren, putzen und einlagern, über Verkaufsstände einrichten bis hin zu Ladetechniken. Bei einem späteren Wechsel in den Einkauf und Vertrieb an Großküchen wurden die Erfahrungen vertieft. Anschließend wechselte er in den Großhandel auf dem Blumengroßmarkt mit Fahrverkauf. Hier konnte er sich weiteres Vertriebswissen aneignen und war zuständig für den Vertrieb von Gruppenpflanzen und Baumschulware an Gartencenter, Blumengeschäfte und Baumärkte. Ende 1989 erhielt er ein Angebot von einem Terracotta-Importeur für den Vertrieb von Pflanzgefäßen in ganz Deutschland. Mit großer Begeisterung baute er Vertrieb und Außendienst mit auf und machte diesen Importeur zu einer europaweit bekannten Marke. Als das Unternehmen 2014 aus Altersgründen von den Inhabern verkauft wurde, stieg Gerd R. ebenfalls aus und sortierte sich neu.
2015 bat seine jüngste Tochter Maja um väterliche Beratung und Hilfe, da sie gern selbständig arbeiten wollte nach ihrem Studium der Ernährungswissenschaften. Das war der Start für einen neuen Berufsanfang für Vater und Tochter.
Gerd R. suchte eine Marktlücke und informierte sich auch auf Hamburger Wochenmärkten. So entdeckte er Süßigkeiten als Verkaufsangebot für seine Tochter und sich, an die sie auch ihr Herz hängen konnten. Besonderen Wert wollten sie auf Vielfalt, Qualität und einzigartige Konzepte legen. Damit sollten gleichgesinnte Naschkatzen durch mobilen Verkauf auf Wochenmärkten erreicht werden. Tochter Maja war von der Idee begeistert, und sodann machten sie Nägel mit Köpfen. Gerd R. kaufte einen gebrauchten 5 m langen Anhänger und baute ihn selbst um und aus für das geplante Süßwarensortiment. Die gemeinsam umgesetzte Strategie beschreibt er so: "Wir verkaufen aus offenen und geschlossenen Behältern auch in Kleinstmengen, produzieren aber nicht selbst. Es wird lose Ware möglichst direkt bei Herstellern oder deren Vertriebspartnern eingekauft und nach unserem Vertriebskonzept angeboten. Wir bilden zwei Preisgruppen in einem riesigen Sortiment von ca. 800 Artikeln über das Jahr. Das Motto dazu heißt: "Probier´gleich hier"! und regt die Kunden zum Testen neuer Artikel an, die sie sonst vermutlich nicht kennenlernen würden. So entsteht Nähe und im Gespräch werden uns Wünsche genannt, denen wir unverzüglich nachgehen und die wir möglicherweise auch umsetzen können."
"Es hat ziemlich lange gedauert", erzählt Gerd R. bis das Sortiment von Rieges Naschwerk auf die Kundschaft abgestimmt war, und dann mussten noch die passenden Verkaufsorte gefunden werden. Tochter Maja und Vater Gerd testeten viele verschiedene Wochenmärkte, aber auch Veranstaltungen und Events.
Inzwischen hat Gerd R. die zu ihm passenden Wochenmärkte ausgewählt und konnte sich Schritt für Schritt eine treue Stammkundschaft aufbauen. Für die kleinen Kunden hat er Tritthocker aufgestellt und erzählt fröhlich, wie gern sie aufsteigen und dann bis zu 15 Minuten Zeit benötigen, um sich die Bonbons anzuschauen und danach aber genau wissen, was sie haben möchten. Das können dann bis zu 15 verschiedene Lutscher per Tüte werden.
Tochter Maja war mit großer Begeisterung bis Mitte 2018 dabei, entschied sich aber dann für eine sichere Berufslaufbahn im öffentlichen Dienst. "Der Geschäftsverlauf gab es bis dahin leider nicht her, das angestrebte Vorhaben umzusetzen, eine Familie davon ernähren zu können - denn eigentlich wollte ich mich nach dem Aufbau aus der Firma zurückziehen und meiner Tochter und ihrem zukünftigen Mann das Feld überlassen", berichtet Gerd R..
Heute bestreitet er den Handel komplett allein. Es war anfangs recht hart, führte aber nach diversen Umstrukturierungen dazu, dass der Ertrag für ein ausreichendes Einkommen sorgt und bemerkt augenzwinkernd: "Reich wird man davon nicht, aber glücklich"!
So benötigt er auf fünf Wochenmärkten jeden Tag drei Stunden für den Aufbau und zwei Stunden für den Abbau, währenddessen er gute alte Rockmusik laut hört, was ihm zu Hause nicht erlaubt ist… Hinzu kommt ein Tag für Einkauf, Lagerhaltung und Büroarbeiten. Das sind bestimmt 70 Stunden in der Woche und deshalb ist die Arbeit gleichzeitig mein Hobby, berichtet Gerd R..
Haben Sie Freude an diesem Beruf?
Ja, sehr sogar, ich freue mich täglich auf meine Bonbons! Und dann geht’s los, bei Wind und Wetter. Auf den Märkten habe ich mit Menschen aller Charaktere, Hautfarben und Ethnien zu tun. Ich bin sehr an allen Persönlichkeiten interessiert, berate sie gern und setze mich mit ihren Wünschen auseinander. Hinzu kommt, dass meine zum größten Teil veganen Produkte auch wegen ihrer Inhaltstoffe beratungsintensiv sind. Meine Tochter hatte übrigens großen Spaß am Verkauf einzelner Bonbons, doch das musste ich aus wirtschaftlichen Gründen ändern. Kleine Artikel gibt es nun per Schäufelchen große Teile werden stückweise in die Tüten gefüllt. Dieser Handel bietet jeden Tag neue Herausforderungen, die teils auch schwierig zu handhaben sind. So sind dies aktuell große Corona- und kriegsbedingte Lieferschwierigkeiten der Hersteller, wegen fehlender Rohstoffe, Verpackungen und Transportmittel. Dies wiederum bewirkt Preiserhöhungen, die ich leider auf kurz über lang an meine Kunden weitergeben muss.
Wie haben Sie die Corona-Pandemie erlebt?
Zunächst viel mehr Arbeit und mehr Umsatz. Im Laufe der Pandemie ging der Umsatz wieder zurück, zurzeit geht es wieder aufwärts. (Frühjahr 2022) Kunden kommen inzwischen wieder mit Gefäßen zum Befüllen und das Warten der Kunden mit Maske und Abstand in der Schlange ist selbstverständlicher geworden. Vielleicht eine Erkenntnis aus der Corona-Zeit: "Wir müssen mehr aufeinander achten"?
Wird sich unsere Arbeit und unser Leben nach der Corona-Pandemie verändern?
Jede Begebenheit und Veränderung bedeutet Verbesserung – ist mein Lebensmotto. Man kann immer etwas verbessern. Die Wirtschaft, die Kundschaft und man selbst verändert sich auch. Das erlebt man eben besonders "live" auf dem Wochenmarkt.
Haben Sie einen Wunsch, eine Vision für die Zukunft?
Ich freue mich sehr, wenn die Menschen mehr Rücksicht aufeinander nehmen und den Wert des Miteinanders schätzen! Dazu möchte ich beitragen.
Vielen Dank für das nette Gespräch.
Das Gespräch führte Barbara Gitschel-Bellwinkel im März 2022.
Zu den Motiven:
Bin selbst ein großer Naschkater...verrät Gerd Riege.
Der bunte Anhänger ist schon von Weitem gut zu sehen.
Fotos©Barbara Gitschel-Bellwinkel