Marius B. schlidderte direkt in die Corona-Krise hinein mit seinem Start in die Selbständigkeit als Wochenmarkthändler. Wie er mit seiner Entscheidung trotzdem glücklich ist, erfahren Sie hier. Marius B. ist 33 Jahre alt und lebt begeistert mit seiner langjährigen Freundin Celia und der gemeinsamen Hündin Else in Hamburg Fuhlsbüttel/Langenhorn. Hier ist er aufgewachsen und fühlt sich zu 100% wohl. Nach dem Abitur lernte er in der evangelischen Stiftung Alsterdorf den Beruf des Heilerziehungspflegers. Soziales Engagement lag und liegt ihm am Herzen, doch nach acht Jahren in der Stiftung fühlte er sich mehr und mehr zermürbt. Allein die
Beobachtung wie hoch der Bedarf an Pflege in der Gesellschaft ist, gepaart mit den täglichen Erlebnissen im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen in der Einrichtung, stauten jede Menge Frust bei ihm auf. Wenig Freizeit, Schichtdienst und schlechte Bezahlung gesellten sich hinzu. Genug für Marius B. und er quittierte den Dienst, um zunächst mit dem Fahrrad quer durch Europa zu radeln, bis nach Portugal und zurück.
Nun stellte sich die Frage, wie sollte es weitergehen? Marius probierte sich aus, nahm diesen und jenen Job an, machte sich sogar mal kurzfristig im Baugewerbe selbständig. In den Pausen schlenderte er über den Wochenmarkt, traf alte Bekannte und Freunde wieder, die er lange nicht gesehen hatte. Wie der Zufall es wollte, nahm er einen Kennenlernjob bei Dirk S. an, ein stadtteilbekannter Gemüsehändler des Wochenmarkts. Was zunächst ein Testen war, wurde zum ernsthaften Lernen. Zwei Jahre wurde Marius vorbereitet auf seinen neuen Beruf, und dann war es soweit: 2020 übernahm er das Geschäft und wurde selbständiger Unternehmer. Meine heutige Arbeit bedeutet für mich am Puls der Zeit zu sein, sagt er fröhlich, Menschen mit unverarbeiteten Lebensmitteln zu versorgen und im direkten Austausch mit meinem geliebten Viertel zu sein. Und fügt schelmisch hinzu, auch das Gegenangehen gegen die Großen (Anmerkung: gemeint sind Supermärkte) mit allen Höhen und Tiefen, gesellschaftliche Normen ab und an verschwinden zu sehen und Arbeitgeber zu sein, bringt mir richtig Spaß!
Wenn es möglich ist helfe ich gern jungen Leuten, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Bei meiner Arbeit kann ich auch mal aus der Haut fahren - das Privileg des Arbeitgebers - denn nach meiner Pfeife muss an meinem Stand getanzt werden, sagt er. Dann fügt er nachdenklich hinzu: Das Nachkriegswunder ist vorbei. Ich bin nicht auf großes Einkommen aus, sondern, es sollte so sein, dass es mich und meine Familie und meine Kinder unterhält. Mein Traum ist ein eigenes Häuschen in Langenhorn, doch dazu wird es wohl nicht kommen…
Mit welchen beruflichen Themen setzen Sie sich zurzeit auseinander?
Ich habe mein Sortiment inzwischen schwerpunktmäßig auf Gemüse, Pilze und Früchte ausgerichtet, wobei Qualität für mich verpflichtend ist. Außerdem versuche ich mit neuen attraktiven Produkten zu punkten. Hier habe ich zum Beispiel Auberginen in ungewöhnlicher Form, oder fermentierten Knoblauch…
Außerdem gefällt mir gar nicht, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen werden, und bin für das Realisieren aller Möglichkeiten, die dagegen ansteuern.
Demnächst werde ich meinem Berufsverband (Landesverband der ambulanten Händler) beitreten, denn gemeinsam kann viel mehr bewirkt werden, als allein.
Verglichen zu ihrer früheren Tätigkeit, haben Sie Freude daran, Wochenmarkthändler zu sein?
Ja, uneingeschränkt, auch wenn rund 60 Arbeitsstunden per Woche zusammenkommen. Denn es sind nicht nur meine vier Wochenmarkttage, sondern der Einkauf und die Bürokratie, schließlich trage ich auch gern Verantwortung für meine Mitarbeiter. Große Freude bereiten mir die Gespräche mit Menschen der unterschiedlichsten Ethnien auf dem Wochenmarkt, wobei ich allerdings kein "rechtes Gedankengut" an meinem Stand dulde.
Würden Sie jungen Leuten raten Wochenmarkthändler zu werden?
Das ist so eine Sache, ich möchte es eingrenzen. Wenn er oder sie Biss hat und die persönliche Individualität zum Markenzeichen machen möchte, dann ja. Ich mag zum Beispiel sehr gern an der frischen Luft – also draußen - sein und arbeiten, habe aber im Grunde Probleme früh aufzustehen, deshalb kämen mir Nachmittags- und Abendmärkte sehr entgegen.
Meinen Sie, dass Wochenmärkte in 10 Jahren anders aussehen?
Nach meiner Beobachtung komme ich zu der Vermutung, dass es bis dahin keine Vormittagsmärkte mehr geben wird - wäre für mich persönlich übrigens gut und völlig in Ordnung.
Was bedeutet geschäftlicher Erfolg für Sie?
Die Firma muss sich tragen, damit ich meine Kinder gut aufziehen kann und außerdem genug Einnahmen erziele, um 1/10 davon zu spenden und an die Gesellschaft zurückgeben zu können, so wie es in kirchlich orientierten Texten zu lesen ist und empfohlen wird. Und ansonsten kurzum: Ich bin froh, wenn meine Kunden und Mitarbeiter zufrieden sind.
Haben Sie einen Wunsch, eine Vision für die Zukunft?
Ich mache das mal an einem Beispiel fest: Ich möchte einen ganz bestimmten Tisch haben und diesen bei einem Tischler in Auftrag geben. Da das zu teuer für mich ist, muss ich ausweichen und bei "Ikea" kaufen, so wie es vielen anderen ebenfalls ergeht. Ich würde so gern kleine Firmen bis 10 Personen unterstützen, das funktioniert aber leider (zurzeit?) nicht mehr. Meine Vision ist also, dass jeder, der es möchte, auch beim Tischler einkaufen/bestellen kann und außerdem alle sich den Einkauf auf dem Wochenmarkt leisten können, und niemand mehr online bei Großkonzernen Ware bestellt.
Verraten Sie Ihr Hobby?
Kanufahren auf der Alster. Früher habe ich Handball gespielt, doch das kommt als Selbständiger wegen der hohen Unfallgefahr nicht mehr in Frage.
Gibt es ein Lieblingsbuch?
Ja, tatsächlich und zwar von John Niven "Gott bewahre".
Möchten Sie noch etwas zum Thema Corona sagen?
Mein Unternehmensstart fiel direkt in den Beginn der Pandemie. Ich hatte erfreuliche 30-40 % mehr Umsatz als angenommen, dann ging es langsam zurück. Gut war in dieser Zeit außerdem, dass die Menschen sich besinnen konnten, Urlaub auf Balkonien machten und vielleicht verloren gegangene Tugenden wieder entdeckten? Heute geht es langsam alles wieder rückwärts, als ob nichts gewesen wäre!?
Vielen Dank für Ihre Antworten auf unsere Fragen. Alles Gute für Ihre Zukunft auf dem Wochenmarkt und in der Freizeit auf dem Wasser!
Das Gespräch führte Barbara Gitschel-Bellwinkel im Juli 2022.
Zu den unteren Motiven:
Jede Menge Gesprächsstoff bieten die ungewöhnlich aussehenden Auberginen.
Unbedingt alles verwenden, auch das Grüne von Rübchen oder Fenchel, empfiehlt Marius B. seinen Kunden.
Fotos und Text©Barbara Gitschel-Bellwinkel